Deutsch-Jüdsche Tragik heute. Seltsam.
Kann das wahr sein?! Dem Herrn bin ich vor gar nicht langer Zeit in einer öffentlichen Bibliothek begegnet. Er sprach mit einer Bibliothekarin hinter dem Schalter, wollte von ihr "Bucher fürr Doitsch lärrnen, biittä!". Ich hörte gleich, da hat doch einer einen ziemlich Russischen Akzent. Und fragte mich ..., sollst Du den vielleicht mal fragen? Ich wollte ja weiter Rruussisch lärrnen. :) Ich saß da und recherschierte, guckte in den lizensierten elektronischen Zeitschriften herum, suchte ... und fand das Gewünschte. Zack! - geschnappt und auf den USB-Stick gespeichert. Dieser Jude :) war schon von ihr weggeschickt worden: "Da gehen Sie am besten oben in den Lesesaal, da stehen Bücher in Deutscher Schrift. Gehen Sie einfach da hin... und dort ..., und schauen Sie mal ...." - war die beredte Auskunft der Bibliothekarin gewesen. Ich dachte nach. Ich dachte, da findet der ja nie was Brauchbares! Und ich wollte ja Russisch lernen. Und ich kam zu dem Schluß: Den fragst Du jetzt aber doch mal! Bist ja nicht auf den Mund gefallen und gar nicht schüchtern. Ich fragte also die Bibliothekarin, wohin sie ihn denn nun geschickt hatte, und sie konnte es mir genauer sagen. Ich also hoch in den Lesesaal, die Äuglein gespitzt, und richtig: Da sah ich ihn schon. Ratlos guckend ging er an diesen ganzen Doitsch-Büchärrn vorbei und herum. Schwärr, wass sooll man da nähmen? Und Wäärr sooll das verstähn? Ich also zu ihm hin und sage: "Iswinítje, wy Rússkie?" Und Er mit großen Augen: "Da!" Und schon wußte er, ich wollte wohl Ruussisch lärrnen! :) Ja, das stimmte. Und er ja Doitsch. Paßt. Bisherige Unternehmungen zum Deutsch-Lernen an Volkshochschulen, Goethe-Instituten und mehr waren ziemlich übel fehlgeschlagen.
Wir machten also ab: Ich bringe ihm Deutsch bei - und er mir Russisch.
Wir trafen uns einige Male, aber es war chaotisch. Immer meinte er: "Sie mussen dass soo machen! Jetzt dass lääsen, dass Ihrre Arrbeitt! Dass jetzt Ihrre Aufgabbä! Wirr dises Buch nähmen. Das Rasgaworrnik, sähr bekwäm.". So faul bin ich gar nicht, auch wenn ich wenig Zeit habe, aber irgendwie ... ging das nicht sehr "äffäcktif". :) Sprach ich mal an, wir sollten doch mal ein richtiges Lehrwerk nehmen, eins für Deutsch, eines für Russisch - damit es besser ginge, wich er vorsichtig aus ... "Ja ..., ja, näkßte Mal ich brringe ...". :)
Bald darauf ergab es sich, daß es am besten wäre, ich käme mal zur Familia nachhause, weil es räumlich und terminlich halt sonst kaum passen wollte. Ich kam hin. Bis dahin hatte ich nur ... vage aber bestimmt geahnt, daß es eine Jüdische Familie war. Ich sah da auf Hebräisch einen Spruch an der Wand hängen, und wußte bescheid. :) (kein Wunder: Mein WG-Mitbewohner ist Deutscher Jude, und da kriegt man gelegentlich manches vom Judentum mit ... :) - und was zu hören.)
Wenig effektiv ging es weiter. Ich brachte - als Tafelersatz - meine Staffelei samt Pappe und Papier mit. Mal was an die Tafel schreiben kann nicht schaden. Das fand auch er gut, denn schon in Russland hatte ihm sein Großvater einst geraten, immer eine Tafel für die Kinderlach zuhause bereit zu haben, damit sie richtig und schön das Schreiben lernen konnten. Weil's die nicht zu kaufen gab, hatte er damals sogar eine große Tafel selber gebaut - die ihm beim Auswandern
gerne von einer anderen Familie abgenommen wurde (die wußten auch, wie wichtig das Erlernen der Schreibschrift ist!!)
Irgendwie ... kamen wir nicht so recht voran. Meine Vorstellung: Jeweils einer unterrichtet den anderen eine Stunde lang, und dann umgekehrt, so in der Art ... teilte er nicht recht sehr. Da saßen wir am Wohnzimmertisch, es gab Russisch-Jüdisch zuessen, gab Russisch Tee ... Aber Lernen mit System ... war doch schwierig. Und so blieb es - auch beim Wechsel auf andere Bücher. Immer standen da Bücher für "schnelle Lösungen" bei ihm im Vordergrund: besonders das Rrasgawórrnik, also Konversationslexikon, in dem man zwar eine (leider oft falsch) improvisierte Lautschrift auf Russisch hinter jedem Satz lesen konnte, aber mit sowas kann man doch nicht so recht lernen - es sei denn, im betreffenden Ausland. (1) Und was sie an den Volkshochschulen und in Integrationskursen für einen Unfug geboten bekommen hatten! Riesige Vokabellisten, mal schnell für den nächsten Tag lernen - aber gar nicht brauchen, wieder vergessen ... "Essen war gekocht worden. Gemüse war geschnitten worden ... Mal eben Perfekt, Plusquamperfekt und Präteritum lernen ... :) Die Frau hatte sich konsequent durchgebissen, konnte jetzt recht ordentlich Deutsch. Die Kinder nach langen Leidenszeiten auch. Deutsche Bekannte zum Deutsch-Lernen hatten sie alle aber nicht so recht, bis auf die Frau, die eine Arbeit hatte.
Nu, eines Tages bekam ich vom Herrn des Hauses zu hören: "Kinder hat grosse Prrabljém in Schule. Mathe und Físik! Sähr schlimm! Bittä hälfen Sie uns!!!" Das klang fast verzeifelt. Die Kinder, beide 16 und untergebracht auf einem Humanistischen "Traditionsgymnasium", das vor ein paar Jahren noch traditionell der örtlichen "Oberschicht" vorbehalten war, hatten wirklich große Prrabljémy: Teilweise bis in den Nachmittag hinein wurden sie mit "Ethik", "Politik" und allerlei Kram befrachtet, nur die Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fächer kamen "etwas" chaotisch und zu kurz. Mich wundert an Deutschen Schulen nicht mehr viel, höchstens, das wirklich was gut geht. Der eine Bub, ein Schlitzohr, klug beim Erfinden von Krankheiten zum Umgehen des Schulbesuchs - damit er Zeit für die Computerspiele (oder was er sonst so am Internet trieb, oder sich dort so anschaute ... ) herausschinden konnte - konnte nur die tolle Doitsche Druckschrift; also hatte er keine Chance im Unterricht richtig mitschreiben zu können. Ich dachte schon: Das bringst Du ihm mal bei! Das Mädel, blaß und schmal, wußte gar nicht, 'wozu überhaupt der ganze Zauber in der Schule. Alles Blödsinn! Kann ich alles längst. In Russland, da war es gutt. Also lieber zurück, als in diesem blöden Doitschland verschimmeln!' So dachte sie wohl, und so klang es.
Jedenfalls fragten mich beide Eltern dringed, was man denn da nachhilfemäßig machen könne. Ich dachte nach. Einen ungewöhnlich guten Nachhilfelehrer kannte ich schon. Einen Mann für alle Fälle, auch für (fast absolut) Hoffnungslose Fälle. Selber Jude. Aber der hatte für sowas eigentlich gar keine Zeit ... Hmmm ... Letztlich ließ er sich erweichen, war sogar froh, mal wieder mit der schaffenden Jugend Kontakt zu haben ... und hängte sich rein, gab sich alle Mühe ..., wenn auch die Zahlungsmoral nicht sehr gut war. ( der Herr des Hauses brauchte ja ein großes Auto, wenn auch arbeitslos ... ) Er hatte vielen geholfen, Leute manchmal sogar von 5 auf 1 gebracht, Leuten die letzte Chance gerettet, und sie erfolgreich angespornt, heiß auf Lernen und "vorwärts" gemacht. Und doch: es wurde nur ein Chaos. Letztlich wußten die Kinder einfach nicht, wozu man hier noch was lernen sollten. Dementsprechend war die "Motivation". Und der Papa? Konnte nach über 4 Jahren Deutschland immer noch nicht genug Doitsch, um wenigstens einfache Gespräche im Supermarkt oder mit einem Handwerker halbwegs hinzukriegen. Und es wurde nichts mit Doitsch. Ich gab mir schon Mühe, erstellte - wenn er schon ein ordentliches Lehrwerk für "Deutsch als Fremdsprache" scheute (gibt's aus Russland komplett mit Audio-Dateien zum fragwürdigen Download, nennt sich "Lagune".) , wie der liebe Teufel das Weihwasser - eigens ein paar PDFs mit wichtigen Alltagsdialogen und mit Audio-Ausgabe, damit er jeden Satz gleich hören könnte ... könnte ... Ein wenig tat sich, und kam wieder zum Stehen.
Der Unterricht für die Kinderlach mußte beendet werden weil sie chronisch unpünktlich - oder überhaupt nicht kamen. Sie ließen ihren ausgesprochen erfolgreichen Jüdischen Nachhilfelehrer einfach sitzen, gingen stattdessen zu Dates und Feten ... Ich sprach klare Worte zum Vater, weil die Mutter - obwohl sehr einsichtig, konsequent und motiviert - beruflich überlastet war. Es besserte sich kurz - und fiel dann in die alte Form zurück: Null Bock ... Ja, ja, schon, ... demnächst. Auf Russisch: Sáwtrra búdjit! - Morgen wird es (schon) werden ... Und so sah es auch beim Herrn Papa aus. Die Sache schlief ein. Irgendwie auch peinlich wegen der Kinder, die mein Kumpel unterrichtete.
Ist das nicht schade?! Ich stehe auf Völkerfreundschaft, gerade auch auch zwischen uns Deutschen und Juden, wo wir uns schon so ähnlich sind ... und so oft in der Geschichte als Völker zusammen erfolgreich waren. Allerdings müßten wir da vermutlich etwas das Alte Testament - also die Tóra - "überwinden". Denn "Herrenmenschen" gibt's vermutlich eben doch nicht, auch wenn's wohl im Alten Testament so scheinen könnte ... Ich glaube auch kaum, daß Jahwe mit sowas einverstanden wäre. Und der liebe Gott in Deutschland sicher auch nicht!
Schade, schade ... Dieser Jude ist übrigens eigentlich ein netter Mann. Etwas gebildet, hat verborgenes Wissen, altes Wissen aus Russland und dem Judentum, hat Geist und Russisch-Jüdischen Humor. Die junge (und charmante ... ) Tochter wollte - so sagte er - mit mir eine Deutsch-Russisch-Jüdische Lerngemeinschaft aufmachen: Zusammen besser Deutsch und Russisch lernen. Das sei aber eine "sährr värrrückte Idää!", meinte er, und ich bin auch nicht drauf eingegangen. Er hat es ihr verboten, und die Mama wohl auch. Zurecht. So ein junges Mädel, hübsch und mit blitzenden, funkenschlagenden Augen ... wenn auch schmal und blaß ... Hooooo. Viel zu gefährlich für mich. Und mir fehlt für sowas auch die Zeit.
Ob er nicht doch noch Doitsch lärrnen will? - Nach jetzt 5 Jahren Deutschland - immer noch ohne richtige Verständigungsmöglichkeit? 2 kleine Arbeitstermine pro Woche könnte ich mir ja abknabsen. Was das wohl werden soll ... Ich fürchte um seine Gesundheit. Die Familie ist nicht sehr glücklich. Eine Familie soll doch aber eigentlich glücklich sein!
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(1) Ergänzung: Rrasgawórrnik: "es sei denn im betreffenden Ausland"

- da fehlt aber noch der Zusatz: "und bei intensivem Kontakt mit dem dortigen Volk". Denn ohne Kontakt zum Volk, zu den Leuten vor Ort, geht das doch nicht. Oda? Irgendwie braucht man immer etwas Kontakt. Sonst schwebt man ja in einem Vakuum umher. Und wer mag schon gerne in einem Vakuum leben? Das fand ich noch nie sehr angenehm

, auch nicht als Deutscher unter Deutschen - wie es aber vielen Leuten heute in Deutschland zu gehen scheint. Seltsam, nicht wahr? Also, lieber etwas Kontakt zum Volk!